Ich will meine Trauer wiederhaben
Berliner Morgenpost, 22. Januar 1998
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Ein junger Mann breitet die Arme wie ein gefallener Engel aus und reißt sich das Shirt vom Körper, um die ersten Takte von "First and last and always" intensiver zu spüren: The Sisters of Mercy, die ihren Namen einem Leonard Cohen-Song entliehen haben, lassen das restlos gefüllte Huxley's im Nebelgewitter beben.
Die Band steht für puren Kult. Sie ist ohne den Kalten Krieg, Reaganomics und Thatcherism nicht zu verstehen. Und vor allem auch ein Berliner Geschichtsphänomen. Es ist kein Zufall, daß das Berliner Konzert extrem schnell ausverkauft war, schließlich ist vieles, was das Lebens- und Todesgefühl der ehemaligen Mauerstadt ausmachte, auch im ästhetischen Überbau zu finden.
Denn wen erinnert die apodiktisch schmucklose Lightshow der Band nicht an Suchscheinwerfer, Wachtürme, bizarren Nebel und Kummerstunden an der Berliner Mauer? Diese Musik aus grauer Vorzeit ist von vielen Westfans wohl als Erinnerung an die düsteren 80er Jahre unter dem Motto "Ich will nicht meine Mauer, sondern meine Trauer wieder" zu betrachten und von vielen Ostfans endlich einmal nachgeholt live zu sehen.
Der stoische Autismus der Sisters, wie von einem inneren Wundfieber angetrieben, war und ist, und das vergessen viele Kritiker der Gothics, immer auch ein politischer Akt. Bei dem galt und gilt es, das Weltgeschehen mit seinen bürgerlichen Hierarchiespielchen nicht mitzumachen und die innere Emigration in die Todessehnsucht anzutreten, auch wenn man von "Mother Russia" singt.
Andrew Eldritch tanzt wie ein waidwundes Tier zum seit 1981 konsequent durchgehaltenen Drumcomputerbeat und den bitteren Plektronmartern seiner coolen Gitarristen und egal, ob man ihn nun als Heino der New Wave oder Dorian Gray des Punk begreifen mag, seine Aura ist unantastbar und lebt von anämischem Antlitz voller Agonie.
Man muß, und das ist das Bemerkenswerte an diesem Konzert, den Sisters zugestehen, daß sie sich keinem Trend anbiedern und der von der englischne Presse zwischendurch totgeglaubte Andrew Eldritch noch immer das Image als Zeremonienmeister des sardonischen Baritons kultiviert - auch wenn die besten Songs der LPs "First and last and always", "Floodland" und "Vision Thing" natürlich lange nicht so enervierend wie in den frühen Tagen gespielt werden.
Obwohl der Auftritt nach einer Stunde vorbei ist, überzeugen die Sisters. Nach frenetisch eingeforderten Zugaben geht das Licht an - und man ist wieder im Jahr 1998. Ob das nun besser oder schlechter ist als Mitte der Achtziger, sei dahingestellt. Gegen die Zeit gibt es auch im "Temple of Love" kein Gegengift.
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